Bewerbungsanschreiben - Sinn und Unsinn in Zeiten von ChatGPT
Über die Sinnhaftigkeit von Anschreiben als Teil der Bewerbungsunterlagen wird seit einiger Zeit heiß diskutiert. Diese Diskussion wird umso brisanter, seit Bewerber in den Erstgesprächen offen gestehen, für das Anschreiben KI genutzt zu haben.
Treten wir kurz einen Schritt zurück, und besinnen wir uns auf Sinn und Zweck eines guten Anschreibens: Es soll den potenziellen Arbeitgeber davon überzeugen, dass jemand die richtige Person für die ausgeschriebene Stelle ist und zeigen, warum jemand eine Einladung zum Vorstellungsgespräch verdient. Ein gutes Anschreiben hat die Macht, Interesse zu wecken. Vor allem aber kann es in einem ersten Schritt Bewerber-Motivation und Bewerber-Persönlichkeit transportieren: Dies liefert erste Einblicke in den so wichtigen P-O-Fit – also, ob die Person zur Organisation passt. Nur dann kann dies in einem möglichen Erstgespräch aufgegriffen, verifiziert und ggf. vertieft werden.
So wie man schon früher Musteranschreiben einsehen konnte bzw. diese zum (kostenfreien) Download angeboten wurden, genau so findet man heutzutage Prompts, die einem das Anschreiben diktieren und sogar bei der Optimierung des CVs helfen. Und auch schon vor der Zeit des Internets gab es Anschreiben, bei denen schnell klar wurde, dass da die Eltern, die Schule, ein Nachbar oder eine Bekannte ordentlich nachgeholfen hatten. Das Grundproblem ist also alles andere als neu. Neu ist dabei auch weniger die Qualität einer AI-unterstützten Bewerbung. Sondern vor allem die Masse der Nutzer! Aber ist nicht genau auch dies eine Chance für die einzelne Person, sich von dieser Masse abzuheben? Denn sich auf andere zu verlassen, impliziert auch weiterhin die Gefahr nur Standardformulierungen zu nutzen und wichtige Hinweise auf einen guten P-O-Fit nicht geben zu können. Denn solche Nuancen der individuellen Motivation, Persönlichkeit und Passung zur Organisation kann KI nicht transportieren. Zumindest nicht ohne Prompts, deren aufwendige Personalisierung die gehoft gesparte eigene Anstrengung egalisieren.
Fakt ist, dass der Wert eines Anschreibens für Bewerber und Unternehmen gesunken ist. Gerade bei Jobs mit niedriger Qualifikation spielt das Anschreiben keine Rolle mehr. Aber dies liegt sicherlich nicht alleinig an ChatGPT und/oder kostenfreien Musteranschreiben, also an den Bewerbern. Es liegt eben auch an den Unternehmen, den HR-Verantwortlichen: Anschreiben und darin enthaltene Informationen kann man ignorieren oder ihnen Wert beimessen. Dies auch und sogar gerade dann, wenn die Vermutung nahe liegt, dass ein Musteranschreiben oder KI nicht nur zur abschließenden Überprüfung der eigenen Unterlagen oder deren Optimierung, sondern aus reiner Bequemlichkeit genutzt wurden! Will ich so jemanden? Die Antwort auf diese Frage kann ja und nein lauten. Man sollte sich als HR nur vorab, pro Stellenausschreibung, darüber klar sein! Unsinnig wird die Forderung nach einem Anschreiben vor allem dann, wenn man sich Arbeitszeit – Mühe – sparen will oder muss. Oder sich dadurch einen besseren Bewerber-Pool verspricht. Hingegen stellt es weiterhin eine Informationsquelle dar, die man auch in Zeiten von KI sinnvoll nutzen kann. Sowohl für die Erstselektion als auch für das Erstgespräch.
Für den praktischen Umgang bieten sich folgende Anregungen:
- Wer als Unternehmen, aus welchen Gründen auf Anschreiben verzichten möchte, könnte dies vor allem auf Jobs mit niedriger Qualifikation einschränken.
- Gerade bei Hochwert-Positionen und ggf. mit einer großen Anzahl von Bewerbern sind gute Anschreiben weiterhin eine wichtige erste Informationsquelle.
- Erfahrene Personaler erkennen Anschreiben, die nicht gut zum CV passen oder den Verdacht auf übermäßig fremde Hilfe begründen. Nicht immer, aber regelmäßig!
- Warum dieses wichtige Wissen bei der Selektion ungenutzt lassen?
- Bei Verdacht auf fremde Hilfe, aber sonst sehr gutem P-J-Fit (also der Passung von Person und Job), sollte dies unbedingt im Erstgespräch kritisch angesprochen werden. Je nach Haltung des Bewerbers ist dies dann ebenso kritisch zu bewerten und bei der Entscheidung für oder gegen eine Person (konsequent, im Sinne der Fairness ggü. anderen Bewerbern) zu berücksichtigen.
Geben Sie das Anschreiben auf oder erkennen Sie (weiterhin) darin einen Mehrwert?